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  • AutorenbildAnne Amaru

AUSGEWANDERT, ABER NICHT AUSGESTIEGEN

Aktualisiert: 30. Juli 2020

Aussteiger wünschen sich eine bessere Welt für alle, ziehen sich aber gerne vor ihr zurück. Sie möchten autark leben, ihr Essen selber anbauen, ihre eigenen Nutztiere halten. Sie verzichten freiwillig auf den Luxus von fließendem, heißen Wasser, manch einer sogar auf Strom. Obwohl es mit Solarenergie eine umweltfreundliche Alternative gäbe, lesen oder schreiben sie ihr Buch lieber bei Kerzenschein...


Ich habe Aussteiger befragt und mir ein paar Gedanken zu ihren Antworten gemacht, die ich gerne mit Euch teilen möchte.

Kann man aus "dem" System aussteigen?

Es gibt kein Land und keinen Ort auf der Welt ohne "System". Wir sind umgeben von Systemen. Unser eigener Körper ist ein Organ-"System". Der Weltraum hat ein Planeten-"System". Wir haben ein Gesundheitssystem, Straßensystem, Computersystem, Stromsystem, Wassersystem usw... Das gesamte Leben unterliegt irgendwelchen "systemischen" Gesetzen. Egal wohin wir gehen, in jedem Land gibt es Regeln und Pflichten, die durch das Zusammenleben der Menschen bestimmt werden und das Zusammenleben der Menschen bestimmen.

Und wer will schon wie Robinson Crusoe einsam auf einer Insel leben?

Wir sind nicht allein auf der Welt und suchen u. a. in den sozialen Medien nach Menschen mit gemeinsamen Interessen. Es gibt Aussteiger, die sich sich ein möglichst sonniges Plätzchen Erde aussuchen und sich dort mit anderen treffen, um zusammen eine neue Form von Gesellschaft aufzubauen. Dabei darf jeder sein eigener Herr bleiben. Ein Widerspruch in sich? Worum geht es? Religion? Philosophie? Um Geld, Besitz und Teilen oder vielleicht die Finanzierung von neuen ökologischen Systemen?

Ganz am Anfang steht der Wunsch nach Veränderung

Mann oder Frau hat den Traum, sich selber zu finden, sich selber zu verwirklichen, weiß aber nicht so recht wie. Der Job ist schon lange langweilig oder ergibt nicht wirklich den Sinn des Lebens, vielleicht wird man von den Kollegen gemobbt. In Deutschland ist häufig nicht nur das Wetter kalt, auch die Menschen geben sich nicht genug Mühe sich für andere zu erwärmen. Man weiß, man kann nicht ewig so weiter machen, hält es aber noch ein Weilchen aus, denn man weiß noch nicht, wohin der Weg führt, wohin man gehen will. Oder, wenn man es wüsste, wie man den ersten Schritt schafft?

Schritt für Schritt das Alte loslassen und das Neue annehmen

Ich lebe heute in einem der ärmsten Teile Perus und werde manchmal gefragt, warum ich gerade hierher kam? Das ist eine längere Geschichte, die zeigt, das man nicht alles planen kann und vielleicht auch gar nicht muss. Ich habe mich nicht bewusst dafür entschieden, ich hatte ja nicht einmal geplant nach Peru zu gehen. Ich war meinem Gefühl gefolgt...


Nach einem dreiviertel Jahr waren alle Vorbereitungen getan und ich fand mich mit einem One-Way-Ticket und zwei riesengroßen Koffern mit meiner Kleidung auf dem Flughafen auf dem Weg nach Lima wieder. Mitgenommen hatte ich meine Erinnerungen, zurück geblieben war nur eine kleine Rattantruhe mit alten Fotoalben auf dem Dachboden meiner Mutter. Den grössten Teil meiner Möbel verkaufte ich über Kleinanzeigen und auf dem Flohmarkt und es hatte sich befreiend angefühlt. Es war überraschend einfach, sich von dem angesammelten Ballast der letzten Jahre zu trennen, waren es doch nur Dinge. Schwer dagegen war es, sich von der Familie, den Freunden, den Tieren und den Pflanzen zu trennen.

Wegbewegung

Geprägt von der Erziehung, genervt vom Konsum, dem Drang immer noch etwas besser, schneller, schöner - und was uns andere vorschreiben wollen - zu sein, schafft man es nur schwer oder gar nicht sein Kopfkino zu verändern, wenn man am gleichen Ort verweilt. In Lebenshilfebüchern liest man, das wir allein unser Leben bestimmen. Mit dem was wir denken, könnten wir alles verändern und glücklich werden. Also, mir gelang dies jahrelang nicht, mich so einfach gedanklich innerlich frei zu machen. Wer diesen Weg schafft ohne das Land zu verlassen, ist zu bewundern.

Entschleunigung beginnt im Kopf

Egal wo man in Deutschland hinfährt oder läuft, man trifft überall auf Menschen. Es gibt so viele Strassen, viele davon führen auf Umwegen zum gleichen Ziel. In Peru gibt es meistens nur eine Strasse, die in die nächste Stadt oder das nächste Dorf führt. Wenn diese in der Regenzeit durch einen Erdrutsch verschüttet wird, bleibt Dir nichts anderes übrig als zu warten. Dein Glück, wenn der Bagger schon da ist und nur eine halbe Stunde lang vor Dir die Strasse aufräumt. Dann hast Du Zeit in die Ferne zu schauen, Dir den weiten Horizont, die imposanten Berge und grünen Täler anzusehen. Du kannst Dich in Geduld üben. Hupen und Schimpfen nutzt Dir nichts. Im Gegenteil, Du lernst Dich nicht über etwas aufzuregen, was Du sowieso nicht ändern kannst.

Jeder soll ruhig so leben wie er möchte

Ist die Idealvorstellung so zu leben wie man möchte in einem Land wie Peru, wo durchschnittlich nur 24 Einwohner auf einen km2 Fläche kommen, deswegen einfacher zu verwirklichen, weil Dir hier der Nachbar nicht ständig über den Zaun schaut? Was dem einen Glück ist, bedeutet des anderen Pech. Für uns eher schwer vorstellbar, das Kinder täglich eine Stunde lang zu Fuß zur nächsten Schule gehen, der Kleinbauer von seinem Haus aus zwei Stunden wandert, um einmal in der Woche am Markttag seine Einkäufe im nächsten Dorf zu tätigen. Wenn er Glück hat, findet er ein Taxi, ein LKW, oder die Ladefläche eines Allrad betrieben Geländewagens, der ihn umsonst auf dem Weg zurück wieder mitnimmt, allen Sicherheitsvorschriften zum Trotz.

Lebenssinn: Aus dem System herausfallen?

Aussteiger schwärmen von der Vorstellung, die Koffer zu packen, Geld vom Konto abzuheben und einfach loszufahren. Mit dem Risiko, eine oder viele Nächte auf der Strasse schlafen zu müssen, wenn man mal keinen netten Menschen findet, der einen als Anhalter im Straßensystem mitnimmt; durstig oder hungrig zu sein, wenn man kein Geld mehr hat oder unterwegs gar ausgeraubt wurde?

Ok, , zugegebenermaßen wäre das jetzt der Extremfall.

Wenn der Aussteiger sich unterwegs ein Eis kauft, das Papier in den nächsten Papierkorb wirft, haben andere bei der Herstellung für ihn in der Fabrik gestanden, damit er einen Moment lang diesen Genuss haben konnte. Sein Rucksack, seine Kleidung, Schuhe, Brille, Handy, Buch und was er mit sich herum trägt, wurden ebenfalls in dem System hergestellt, dem er gerade entfliehen möchte.

Gesundheit?

Selbstbestimmung ist... sich nicht mehr von der Werbung oder Ärzten sagen zu lassen, was fit, gesund oder ungesund ist, seinen Urinstinkten zu folgen. Kräuter mixen kann wahrlich sehr nützlich sein, zu verstehen woher wir kommen und wohin wir gehen, mit oder ohne Religion, das System des Gesetzes der Anziehung „Gutes kommt zu Gutem“ „Schlechtes zu Schlechtem“ wirken lassen. Aber ist man im Falle von Krankheit auch bereit die Konsequenzen dieser Philosophie zu tragen?

Auf der Suche nach Individualität
Coca Cola Werbung in der peruanischen Wüste

Die Werbung verspricht uns Individualität, wenn wir Produkte konsumieren, dabei ist es in Wahrheit umgekehrt, wir verlieren sie. Kleine Mädchen in Peru haben die gleichen begeisterten Augen, wie kleine Mädchen in anderen Ländern der Welt, wenn sie eine Puppenküche geschenkt bekommen oder eine Barbie, die langes blondes Haar hat und tanzen kann, alle laufen mit den gleichen Mickymaus-Ohren an den rosa Rucksäcken zur Schule. Jungen sind glücklich, wenn ihre Roboter selbständig laufen und um sich schießen können. Bis ins kleinste peruanische Andendorf dringen diese Mechanismen vor, denen der Aussteiger sich entziehen möchte.

Und, was ist mit Bildung?

Aussteigen bedeutet selber zu entscheiden, was ich lerne? Das sagt jemand, der selbstverständlich Zugang auf ein größtenteils kostenloses Bildungssystem hat. Das Recht auf Bildung gilt als eigenständiges kulturelles Menschenrecht und ist ein zentrales Instrument, um die Verwirklichung anderer Menschenrechte zu fördern. Kinder in den Andendörfern haben nur sehr schwer Zugang zu Bildung. Hier ist es nicht selbstverständlich, das jeder Mensch lesen und schreiben kann. Nach Angaben des peruanischen Bildungsministeriums gibt es immer noch 1.369.295 Analphabeten in Peru. In den den letzten 5 Jahren sei die Rate von 7,1% auf 5,9% gesunken. Das Niveau des Unterrichts sinkt ebenfalls mit der Entfernung der Menschen von den Zentren der großen Städte. Der Besuch von besseren Schulen kosten in Peru Geld. Die Kinder der Armen bekommen daher nicht einmal die Möglichkeit eines Mindestmasses an Bildung, was in Deutschland selbstverständlich ist. Viele gehen sogar nur bis in die 4. Klasse zur Schule!

Man braucht Durchhaltevermögen

sagte mir ein anderer Aussteiger. Nun, ist es nicht gerade das, wovon er eigentlich so gerne weg möchte? Immer nur im Hamsterrad "durchzuhalten"? Durchhalten um ein Ziel zu erreichen, das man sich gesteckt hat ist vielleicht eher gemeint. Letztendlich reden wir von Selbstverwirklichung mit dem Ziel glücklich zu werden. Dann ist bestimmt der Weg das Ziel?

Das einfache Leben leben

Möchtest Du so wie der peruanische Kleinbauer, der in den Anden auf über 2500 m ohne Heizung und Strom leben? Dort, wo die Frauen noch täglich das Holz für den Feuerplatz zusammensuchen, um das Mittagessen zu kochen? Möchtest Du Zeit haben, wie die Frauen in den Dörfern, die den ganzen Tag auf der Treppe ihres Hauseingangs sitzen und häkeln, weil es dafür in den Häusern zu dunkel ist? "Lange Weile" haben wie der Nachbar der nebenan auf seinem Plastikstuhl vor seinem Lädchen sitzt und darauf wartet, das jemand vorbeikommt und eine Kleinigkeit kauft, damit wieder etwas Kleingeld für den nächsten Tag in die Kasse kommt? Jedes Mal, wenn ich dort vorbei gehe frage ich mich, warum er die Zeit nicht nutzt ein Buch zu lesen.

Vielleicht kann er gar nicht lesen?


An der nächsten Tür sitzt eine alte Frau eingewickelt in eine Decke. Wenn sie Glück hat, kommt jemand vorbei und unterhält sich eine Weile mit ihr, danach schaut sie wieder auf die vorbeifahrenden Autos, vorbeilaufenden Hunde oder Menschen. Warum möchte sie jetzt nicht lieber irgendwo anders sein, am Meer vielleicht? Woher kommt diese Genügsamkeit, die ich als Europäerin kaum begreife? Es gibt sogar alte Menschen, die noch nie in der nächsten grösseren Stadt waren, geschweige denn in einem Supermarkt!


Die meisten Leute im Dorf haben eine Stromrechnung von 8 bis 15 Soles (2 bis 4 Euro) im Monat. So gut wie niemand hat eine Waschmaschine, nur sehr wenige haben einen Kühlschrank und auch keinen Fernseher, der sie unterhält, nur ein kleines Radio. Wegen des schlechten Empfangs gibt nur einen Sender, der jeden Tag die gleichen Lieder spielt. Waehrend der Fussballweltmeisterschaft stehen sie auf der Strasse Schlange, um einen Blick vom Fussballfeld zu erhaschen. Sie beschweren sich nicht, weil sie es nicht anders kennen.


Es gibt nur eine Krankenstation mit einem ungeeichten Blutdruckgerät und einem Notfall-EKG, was niemand richtig bedienen, geschweige denn das Ergebnis lesen kann, dafür muss man mit dem Kleinbus in die nächstgelegene grössere Stadt fahren. Kaum jemand besitzt ein eigenes Auto.

Wer ist zufriedener oder glücklicher?

Ich weiß es nicht!

Ein ganz entscheidender Unterschied könnte doch sein, das diese Menschen unsere Welt gar nicht kennen, und wir umgekehrt nicht ihre Welt, die wir aber gerne wohlweislich als die "3. Welt" bezeichnen? Ich habe bei meinen Recherchen Auswanderer und Aussteiger gesucht, die ihre Entscheidung wegzugehen oder ihr Leben umzugestalten in einem globaleren Sinne einzuordnen versuchen, fand aber viele die - genau wie unsere Bauern - nur ihre eigene kleine Welt betrachten und sich schwer tun darüber hinaus zu schauen.

Konsumieren mit Verantwortung

Wenn ich aufhöre mir morgens meinen Kaffee zu kochen, verliert der Kaffeebauer seinen Markt und kann seine Familie nicht mehr ernähren. Ich könnte also damit beginnen mich zu fragen, wo all die wundersamen Lebensmittel herkommen, die wir im Supermarkt finden und meine Kaufentscheidung danach ausrichten. Eben die Dinge die wir haben schätzen lernen, und nicht alles als selbstverständlich nehmen kann die innere Veränderung bewirken. Dankbarkeit dafür kann mein eigenes und das andere Leben bereichern. Das System aus dieser Perspektive neu zu betrachten kann befreiend wirken und vielleicht die Freiheit sein, die wir suchen. Sich selbst und sein Leben so zu gestalten, das man sich damit wohlfühlt und gleichzeitig niemandem dabei schadet. Anderen in diesem einen "Weltensystem" etwas geben und dafür etwas wieder bekommen! Genau wie die Peruaner von der Mutter Erde ernten und etwas in Form von Dankbarkeit wieder an die "Pacha Mama.", zurueckgeben!

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